Malawi: Sprachtherapie
15. Oktober 2018
Die Hear the World Foundation suchte Sprachtherapeuten für einen Freiwilligen-Einsatz bei der ABC Hearing Clinic in Malawi. Denn viele Kinder, die für Hörtests in die Klinik kommen, haben Schwierigkeiten mit der Laut- und Schriftsprache. Und in einkommensschwachen Ländern wie Malawi haben hörbeeinträchtigte Kinder ohne Therapie geringe Chancen auf eine Schulbildung. Vor diesem Hintergrund war es dem Team in Malawi ein Anliegen, sich im Bereich der Sprachtherapie weiterzubilden, um so die Kinder in ihren Sprech- und Sprachkompetenzen zu fördern – mithilfe der ganzen Familie.
Als Sprachtherapeutin war ich sofort begeistert von dieser Möglichkeit, einen Beitrag zu leisten und freute mich riesig, als ich angenommen wurde. Zu Beginn dachte ich, dass es für mich einfach wird: Ich verfüge über jahrelange Erfahrung als Therapeutin und bin mit den Kommunikationsmitteln in der Sprachtherapie vertraut. Zudem bin ich im pädiatrischen Team von Phonak daran beteiligt, Hilfestellungen für Familien zu entwickeln, um eine altersgerechte Sprachentwicklung bei hörgeschädigten Kindern zu fördern. Ein Spaziergang also, richtig? Ganz im Gegenteil!
Stand der Dinge
Als Erstes haben wir die Sprachtherapeuten vor Ort getroffen und den aktuellen Stand der Sprachförderung bei Kindern in Zentralmalawi eruiert: Es gibt nur drei örtliche Zentren, die Sprachtherapie anbieten, zwei davon sind privat. In dem einen Zentrum, in dem Therapien kostenlos angeboten werden, hält nur ein Therapeut während einem halben Tag pro Woche Sprechstunde.Das sind also ungefähr vier Stunden pro Woche, um den Bedürfnissen aller Kinder in Zentralmalawi gerecht zu werden, die nicht über die Mittel für eine Privattherapie verfügen. Die Mehrheit der Kinder mit Sprachschwierigkeiten haben also keinen Zugang zu Hilfe. Mit so geringen Therapiemöglichkeiten muss die Frühförderung unbedingt optimiert werden.
Keine Überraschung
Doch – wo anfangen? Wir haben uns die Frühförderung in Malawi im Detail angeschaut. Wenig überraschend wurde das meiste Lehrmaterial in Nordamerika erarbeitet.Herkömmliche Lehrmittel zur Sprachentwicklung arbeiten mit Bildern von Personen, Orten und Gegenständen, um die Bildung von Lauten an verschiedenen Stellen in einem Wort zu trainieren. Ein gängiges Bild, um im Englischen den /v/-Laut zu üben, ist ein Staubsauger («vacuum»). Das ist ideal, wenn ein Kind einen Staubsauger zuhause stehen hat. Aber für einen Jungen in Malawi, der noch nie in seinem Leben einen Staubsauger gesehen hat? Anderes Beispiel: Um den /h/-Laut zu üben, wird ein Bild eines Hauses gezeigt. Erkennt ein Kind in Malawi ein zweistöckiges Backsteingebäude mit anschliessender Garage als Haus? Wahrscheinlich nicht.
Auch ein Bild von einem Weihnachtsmann, um den /s/-Laut zu üben («Santa Claus» auf Englisch), macht in einem der am wenigsten entwickelten Länder der Welt wenig Sinn. Dort ist Santa nicht bekannt, wohl aber Fussball, «soccer» auf Englisch. Kulturelle Anpassungen waren also dringend nötig – und machbar.
Auf der Suche nach passenden Begriffen und Bildern
Nun zum schönsten Teil meiner Arbeit in der ABC Hearing Clinic: Um die Bildersammlung zu verbessern, setzten wir uns in einer kleinen Gruppe zusammen und sortierten die Bilder. Wir machten drei Stapel: behalten, ausschliessen, anpassen. Einige waren einfach: Kinder, die in einem See schwimmen – behalten. Aber was ist mit dem Bild eines Pferds? Das Team klärte mich auf: In Malawi sind Kinder von Eseln umgeben, nicht von Pferden. Wenn sie also ein Bild eines Pferds sehen, sagen sie automatisch «donkey» oder «bulu» in den beiden malawischen Amtssprachen Englisch und Chichewa.Es gefiel mir, mit welchem Enthusiasmus die Therapeuten mir versicherten, dass die Bilder auf dem Behalten-Stapel passend seien. Zudem haben wir neue Bilder von Personen, Orten und Gegenständen in Malawi in die Sammlung aufgenommen. Die Therapeuten übersetzten anschliessend alle Wörter in Chichewa. So verfügen wir gleich über zwei Sprachversionen, die je nach Erstsprache des Kindes eingesetzt werden können. Ziel ist es, das angepasste Lehrmittel zweisprachig zur Hand zu haben: Englisch und Chichewa.
Mehr als eine Gute-Nacht-Geschichte
Es hat sich gezeigt, dass die Klinik ausserdem eine Broschüre benötigt, die den Eltern nach der Diagnose von Hörverlust bei ihrem Kind eine Unterstützung bietet, wie sie die Sprachentwicklung ihres Kindes fördern können – in der Hoffnung, dass ein sprachbewusstes Umfeld zuhause eine allfällige Sprachtherapie, wenn später Hörhilfen hinzukommen, überflüssig macht.Dazu haben wir eruiert, welche Aktivitäten für eine malawische Familie alltäglich sind und welche eher weniger. In Nordamerika zum Beispiel würden wir den Eltern empfehlen, dem Kind eine Gute-Nacht-Geschichte vorzulesen und danach über die Geschichte zu sprechen. Aber in Malawi gibt es kein allabendliches Zubettgeh-Ritual. Es ist nicht so, dass die Kinder in ihr Pyjama schlüpfen, sich ins Bett kuscheln und ein Buch vorgelesen bekommen. Meine Kollegen lächelten, als ich ihnen diese Gepflogenheit beschrieb. Sie meinten, in Malawi gehen die Kinder einfach zu Bett, wenn es Zeit ist zum Schlafengehen. Dafür gibt es ganz viele andere Situationen im Alltag eines malawischen Kindes, in denen spielerisch die Sprache im Fokus steht. So ist zum Beispiel Musik ein grosser Teil ihres Lebens und beim Kochen wird häufig gesungen. Ich musste schmunzeln, als mir die Therapeuten Kinderlieder beschrieben, die das Zeigen auf bestimmte Körperteile miteinbeziehen: Diese in Malawi weit verbreiteten Lieder sind ideal als Hilfestellung zur Sprachförderung im Familienalltag.
Leider konnten wir unsere Arbeit während meines Einsatzes nicht abschliessen, aber wir werden aus der Ferne weitermachen. Ich bin sehr gespannt, wie die malawischen Familien auf die neu erarbeiteten Hilfestellungen reagieren werden. Es ist mein Ziel, dass kein Kind in Malawi ein Bild von einem Weihnachtsmann gezeigt bekommt, um den /s/-Laut zu üben. Dank dem äusserst motivierten Team der ABC Hearing Clinic wird das nicht der Fall sein.
Links:
- Lesen Sie auch den Blogbeitrag von Ora Buerkli über ihre Erfahrungen in #HearMalawi
- Mehr zum #HearMalawi-Projekt